Alternde Atomkraftwerke: Risiken und Modernisierungsbedarf

Alternde Atomkraftwerke: Risiken und Modernisierungsbedarf

Viele Kernkraftwerke erreichen oder überschreiten ihr ursprünglich geplantes Betriebsalter. Mit zunehmendem Materialverschleiß steigen Anforderungen an Sicherheit, Wartung und regulatorische Aufsicht. Der Beitrag beleuchtet technische Risiken, wirtschaftliche Abwägungen und den Modernisierungsbedarf im Kontext von Versorgungssicherheit und Energiewende.

Inhalte

Alterungsmechanismen im Kern

Im neutronenintensiven Umfeld des Reaktorkerns verändern sich Werkstoffe durch Strahlenschäden, Transmutation und Wasserchemie, wodurch Zähigkeit, Dimensionsstabilität und Oberflächenintegrität abnehmen. Schnelle Neutronen erzeugen Versetzungszonen, Leerstellen und Heliumblasen; zusammen mit thermischen Lastwechseln entstehen Versprödung, Risskorrosion und Formänderungen. Betroffen sind der Gürtellinienbereich des Reaktordruckbehälters, Kern‑Internals wie Baffle-/Shroud-Strukturen, Führungsrohre und Spacergitter sowie Brennstoffhüllrohre und Steuerstäbe. Fluenzgradienten und Leistungszyklen verschieben Reaktivitätsverteilungen, erhöhen lokale Spannungen und begünstigen Materialermüdung.

  • Strahlenversprödung des Reaktordruckbehälters (Anstieg Übergangstemperatur, Zähigkeitsverlust)
  • IASCC (strahlungsinduzierte Spannungsrisskorrosion) in austenitischen Stählen der Internals
  • Void Swelling und strahlungsinduziertes Kriechen mit Maßänderungen
  • PWSCC in Nickelbasislegierungen an Durchdringungen/Ansätzen
  • Oxidation und Hydridbildung der Zr‑Hüllrohre, erhöhte Wasserstoffaufnahme
  • PCI (Pellet‑Clad‑Interaction) und Freisetzung von Spaltgasen
  • Absorberdepletion und Schwellung in B4C-, Ag‑In‑Cd- oder Hf‑Steuerstäben
  • Crud‑Ablagerungen mit lokaler Leistungs- und Temperaturverschiebung
Bauteil Dominanter Prozess Indikator
RDB (Gürtellinie) Versprödung ΔRTNDT, Charpy
Baffle-/Shroud-Bolzen IASCC US/ET‑Rissbefunde
Brennstoffhülle Oxidation/Hydrid Oxiddicke, H‑Aufnahme
Spacergitter Erosion/Korrosion ΔP im Kern
Steuerstäbe Depletion/Schwellung Reaktivitätsverlust

Die Folgen dieser Mechanismen reichen von reduzierten Sicherheitsmargen (Bruchzähigkeit, Leck‑vor‑Bruch, Kühlkanaloffenheit) bis zu strengeren Betriebsgrenzen bei Heißkanalfaktoren und Steuerstabwegen. Gegenstrategien bündeln Zustandsdiagnostik, Wasserchemie‑Kontrolle, Werkstoffmodernisierung und Lastmanagement: Überwachungskapseln, Neutronendosimetrie, zerstörungsfreie Prüfungen und Online‑Kernüberwachung liefern Trenddaten, während Komponenten mit erhöhtem Schadensrisiko gezielt ersetzt oder nachbehandelt und Brennstoff- sowie Steuerungstechnik technologisch weiterentwickelt werden.

  • Thermisches Annealing des RDB und fluenzarme Reload-/Low‑Leakage‑Strategien
  • Werkstoffwechsel auf IASCC‑resistente Legierungen, verbesserte Baffle‑Bolzen
  • Wasserchemie‑Optimierung (HWC, Zink‑Injektion, NMCA) zur Potenzialsenkung
  • ATF‑Konzepte (Cr‑beschichtete Zr‑Hülle, FeCrAl, SiC/SiC; chromia‑dotiertes UO2)
  • Steuerstab‑Refurbishment und absorberoptimierte Mischungen
  • Engmaschige Online‑Diagnostik von Kernrauschen, ΔP und Oxiddicken mit datenbasierter Trendanalyse

Materialermüdung und Korrosion

Thermische und mechanische Lastwechsel, kombiniert mit Strahlungsversprödung und chemischen Einflüssen, führen in alternden Reaktorsystemen zu Rissinitiierung und -wachstum. Besonders betroffen sind Übergangsbereiche mit hohen Spannungsgradienten wie Düsen am Reaktordruckbehälter, Schweißnähte im Primärkreislauf, Heizrohre der Dampferzeuger sowie der Containment-Liner. Phänomene wie Spannungsrisskorrosion (SCC/PWSCC), flussbeschleunigte Korrosion (FAC) und Ermüdungsrisswachstum werden durch Lastfolgebetrieb, Start-Stopp-Zyklen und lokale Turbulenzen verstärkt, während Wasserchemie und Werkstoffzustand (z. B. Neutronenversprödung) das Schadensbild modulieren.

  • Hotspots: T-Stücke, Bögen, Reduzierungen, Mischkammern, Sieb- und Drosselstrecken
  • Treiber: Temperaturtransienten, Vibrationen, Sauerstoff-/pH-Schwankungen, galvanische Paare
  • Werkstoffe: Empfindliche Ni-Basis-Legierungen (z. B. 600) vs. widerstandsfähige Varianten (z. B. 690TT)
  • Mechanismen-Kopplung: Korrosion + Ermüdung → beschleunigtes Risswachstum

Gegenmaßnahmen fokussieren auf risikobasierte Inspektionen (RBI), erweiterte zerstörungsfreie Prüfverfahren (Phased-Array-UT, TOFD, Wirbelstrom), On‑line‑Monitoring für Wanddicken und Chemie sowie gezielte Modernisierung: Werkstoffsubstitution (Alloy 600 → 690TT), Laser-/Nickel-basierte Claddings, optimierte Wasserchemie (H₂-Wasserchemie, Zink-Injektion, pH-/Sauerstoff-Management) und verbesserte Beschichtungen inklusive kathodischem Schutz. Digitale Zwillinge und prädiktive Analytik verknüpfen Lastkollektive mit Risslebensdauer-Modellen, wodurch Prüfintervalle belastungsadaptiv und sicherheitsorientiert festgelegt werden.

Komponente Hauptmechanismus Modernisierung/Prüfung Typisches Intervall
Dampferzeuger-Heizrohre PWSCC Alloy 690TT; 100% Wirbelstrom 12-24 Mon.
Primärkreislauf-Bögen FAC Chemie-Optimierung; UT-Wanddicke 12 Mon.
RDB-Düsen thermische Ermüdung PAUT/TOFD; Oberflächenverfestigung 18-36 Mon.
Containment-Liner Unterrostung Beschichtung; kathodischer Schutz 48-60 Mon.

Sicherheitsrisiken im Betrieb

Im laufenden Betrieb alternder Anlagen verschieben sich Sicherheitsmargen schleichend: Neutronenversprödung im Reaktordruckbehälter, thermische Ermüdung an Schweißnähten und Korrosion in Kühlkreisläufen erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Leckagen und Funktionsverlusten. Gleichzeitig erzeugen Obsoleszenz in Mess- und Leittechnik, Ersatzteilknappheit und komplexe Retrofit-Pfade (analog-digital) zusätzliche Schnittstellenrisiken. Externe Stressoren wie häufigere Hitzewellen, Hochwasser und Netzinstabilitäten verschieben Lastprofile, verlängern Anfahrzyklen und belasten Komponenten stärker als im ursprünglichen Design vorgesehen.

  • Materialdegradation: Versprödung, Rissinitiierung, Spannungsrisskorrosion
  • Kühlkette: Biofouling, Sedimente, Temperaturspitzen im Einlauf
  • Leittechnik: Sensor-Drift, veraltete Firmware, Cyberangriffsfläche
  • Notstrompfad: Dieselstartzuverlässigkeit, Treibstoffqualität, Umschaltlogik
  • Grid-Kopplung: Lastfolgebetrieb, Frequenzsprünge, Inselbildung
  • Human Factors: Routinefehler, Alarmflut, organisatorische Erosion

Operative Risiken verdichten sich oft in seltenen, aber folgenreichen Kombinationen: ausfallende Redundanzen durch gemeinsame Ursachen, simultane Störungen in Kühl- und Stromversorgung, oder fehlerhafte Zustandsbilder, wenn Sensoren gleichzeitig driften. Diagnostische Grenzen nichtzerstörender Prüfungen, verlängerte Prüffristen und Dateninseln aus Retrofit-Projekten erschweren das frühzeitige Erkennen. Kritisch sind zudem Wartungsverschiebungen in Hochlastphasen, die Fragmentierung von Lieferketten sowie die Kopplung digitaler Modernisierungen mit älteren analogen Barrieren.

Komponente Alterungsmechanismus Risikowirkung
Reaktordruckbehälter Versprödung Reduzierte Bruchzähigkeit
Dampferzeuger Ablagerungen/SG-Tubes Risse Leckage, Kontamination
Hauptkühlmittelpumpen Ermüdung/Schwingungen Förderverlust
Notstromdiesel Startausfall/Alterung USV-Lücke
Leittechnik (I&C) Obsoleszenz/Drift Fehldiagnosen
Kühlwasserpfad Korrosion/Biofouling Durchsatzminderung

Nachrüstungen und Überwachung

Technische Modernisierung dient der Reduktion alterungsbedingter Ausfallrisiken und der Anpassung an aktuelle Sicherheitsstandards. Priorität haben robuste Redundanz und Diversität in der Leittechnik, passive Sicherheitsfunktionen, verbesserte Severe-Accident-Management-Maßnahmen sowie bauliche Verstärkungen gegen Erdbeben, Hochwasser und Starkniederschläge. Ebenso relevant sind gefilterte Druckentlastung des Containments, Wasserstoff-Rekombinatoren, erweiterte Notstromversorgung inklusive diversifizierter Einspeisewege und Cybersecurity für digitalisierte Steuerungen. Upgrades am Kühlsystem, der Notfallinstrumentierung in Abklingbecken und am Brandschutz senken das Eskalationspotenzial im Störfall.

  • Digitale Leittechnik: Migration auf fehlertolerante Plattformen mit qualifizierter Software
  • Strukturelle Verstärkung: Seismische Nachweise, Flutmauern, verbesserte Drainage
  • Severe-Accident-Maßnahmen: FCVS, Rekombinatoren, Core-Catcher-Strategien
  • Versorgungssicherheit: Zusätzliche Diesel, mobile Einspeisung, getrennte Kabeltrassen
  • Cyberhärtung: Segmentierung, Whitelisting, Offline-Patches, forensische Protokollierung
Komponente Upgrade Nutzen
Leittechnik (I&C) Digitale, diversitäre Plattform Schnellere Diagnose, weniger Spurious Trips
Containment Gefilterte Druckentlastung Reduzierte Freisetzung
Notstrom Zusätzliche Einspeisewege Höhere Verfügbarkeit
Abklingbecken Füllstands-/Temperaturmessung Frühe Anomalieerkennung
Gebäude Seismische Verstärkung Widerstand gegen Extremereignisse

Verlässliche Sicherheit entsteht durch kontinuierliches Monitoring und ein integriertes Alterungsmanagement. Online-Zustandsüberwachung, zerstörungsfreie Prüfungen und datengetriebene vorausschauende Instandhaltung erfassen Materialversprödung, Rissinitiierung und Schwingungsanomalien frühzeitig. Ergänzend festigen Periodische Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ/PSR), probabilistische Risikoanalysen (PRA) und unabhängige Aufsicht die Nachweisführung. Die Verknüpfung von Prozessdaten, Umweltparametern und Betriebsereignissen in sicheren Datenpools ermöglicht Trendanalysen, Alarmpriorisierung und evidenzbasiertes Lifecycle-Management.

  • NDT: Ultraschall, Wirbelstrom, akustische Emission, Thermografie
  • Werkstoffüberwachung: Versprödungskapseln, Neutronenfluss-Tracking
  • Leckage- und Dampfdetektion: Heliumsniffer, Massenspektrometrie, Feuchte-Logger
  • Schwingungsanalyse: Online-Vibration, Lagerzustand, Pumpenkennlinien
  • Datenanalytik: Anomalieerkennung, Zustandsindizes, Predictive Maintenance

Empfehlungen zur Nachrüstung

Nachrüstprogramme orientieren sich an einem risikobasierten Ansatz, der alterungsrelevante Schwachstellen mit hoher sicherheitstechnischer Wirkung priorisiert. Im Fokus stehen die Modernisierung von Mess-, Steuer- und Regeltechnik, die Ertüchtigung passiver Sicherheitssysteme sowie die Verbesserung der Beherrschung seltener, aber folgenreicher Ereignisse. Neben konstruktiven Maßnahmen sind auch organisatorische und digitale Schutzebenen zu integrieren, um die Verteidigung-in-der-Tiefe zu stärken. Die Auswahl folgt einer Kosten-Nutzen-Bewertung, die Ausfallzeiten, Zulassungspfade und Lieferkettenrisiken systematisch berücksichtigt.

  • Digitale Leittechnik (I&C): diversitäre Plattformen, deterministische Architekturen, Begrenzung gemeinsamer Fehlerursachen.
  • Passive Wärmeabfuhr: natürliche Zirkulation, nachrüstbare Wärmeübertrager und Schwerkraftspeicher.
  • Gefilterte Containment-Druckentlastung: aerosol- und jodabscheidende Systeme zur Begrenzung von Quelltermen.
  • Seismische und Überflutungsertüchtigung: Verankerungen, Dämpfer, Barrieren für über die Auslegung hinausgehende Lasten.
  • Wasserstoff-Management: recombiner/igniter-Strategie, Zonenbildung, strömungstechnische Optimierung.
  • Instrumentierung für schwere Unfälle: robuste Sensorik, qualifizierte Anzeigen und Notbedienplätze.
  • Redundante Kühlung der Brennelementbecken: zusätzliche Einspeisewege, mobile Einsätze, unabhängige Stromversorgung.
  • Cyber-Resilienz: Segmentierung, Whitelisting, Härtung von Lieferketten und Patching-Prozessen.
  • Brandschutz und Kabeltrennung: physische Separation, feuerbeständige Durchführungen, Detektion und Löschung.

Die Umsetzung erfolgt in gestuften Arbeitspaketen mit vorausschauenden Instandhaltungsfenstern und qualifizierenden Tests, unterstützt durch digitale Zwillinge und Lebenszyklus-Management für Ersatzteile. Prüf- und Abnahmeprogramme basieren auf realitätsnahen Szenarien, während Strahlenschutz (ALARA), Abfallmanagement und Demontage der Altanlagenkomponenten in Bau- und Logistikkonzepte integriert sind. Lizenzierungsaspekte werden früh mit Behörden und TSO abgestimmt, um Schnittstellen zu Materialqualifikation und IT-Sicherheit zu klären. Ein Kennzahlensystem aus Risikoabbau, Anlagenausfällen und Reifegraden ermöglicht Priorisierung und transparente Fortschrittskontrolle.

Maßnahme Sicherheitswirkung Ausfallzeit Komplexität
Digitale Leittechnik hoch mittel hoch
Gefilterte Druckentlastung hoch gering mittel
Passive Wärmeabfuhr mittel mittel mittel
Wasserstoff-Rekombinatoren mittel gering gering
Becken-Kühlungsredundanz hoch mittel mittel
Cyber-Resilienz mittel gering mittel
Seismische Ertüchtigung hoch hoch hoch

Welche Risiken entstehen durch alternde Atomkraftwerke?

Mit zunehmendem Alter steigen Risiken durch Materialermüdung, Korrosion und veraltete Technik. Ausfallwahrscheinlichkeiten von Komponenten nehmen zu, Sicherheitsmargen sinken. Externe Belastungen und menschliche Faktoren können Schwachstellen zusätzlich offenlegen.

Welche Komponenten altern besonders stark?

Besonders betroffen sind Reaktordruckbehälter, Rohrleitungen, Dampferzeuger und Betonabschirmungen. Thermische Zyklen, Neutronenfluss und chemische Einflüsse beschleunigen Alterung. Auch Steuerkabel und Pumpen leiden unter Isolations- und Dichtungsverschleiß.

Welche Modernisierungsmaßnahmen sind üblich?

Üblich sind Nachrüstungen an Notkühlsystemen, Brandschutz und Stromversorgung, der Austausch ermüdeter Komponenten sowie digitale Leittechnik. Zustandsüberwachung, seismische Verstärkungen und passive Sicherheitselemente erhöhen Robustheit und Verfügbarkeit.

Wie bewerten Aufsichtsbehörden die Lebensdauerverlängerung?

Lebensdauerverlängerungen erfordern detaillierte Sicherheitsnachweise, Periodische Sicherheitsüberprüfungen und probabilistische Risikoanalysen. Behörden prüfen Materialzustand, Alterungsprogramme und Notfallvorsorge; Grenzwerte und Auflagen werden entsprechend angepasst.

Welche Rolle spielen Stilllegung und Entsorgung im Gesamtrisiko?

Stilllegung und Entsorgung sind integraler Teil des Risikomanagements. Späte Laufzeiten erhöhen Planungsdruck für Rückbau, Abfallbehandlung und Zwischenlagerung. Sorgfältige Finanzierung, Qualifikation und Logistik minimieren Rest- und Transportrisiken.

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